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Prof. Dr. Hans Füchtner

(Universität Kassel)

Organisierte Psychoanalyse und Staat in Brasilien[1]


Die Psychoanalytiker interessieren sich wenig für den Staat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen,(Fenichel, 1935/1972);(Fenichel, 1972);(Fenichel, 1985);(Fenichel, 1998);(Fromm, 1930); (Reich, 1974/1995); (Assoun, 1981) sehen die Psychoanalytiker in ihm bis heute kein wichtiges Thema. Selbst wenn das Verhältnis von Psychoanalyse und Politik zur Diskussion steht, wird der Staat allenfalls am Rande erwähnt(z.B. Becker; Nedelmann, 1983; Dadoun, 1995; Kaufmann, 1979; Kodai, 1984; Leclaire; Lévy; Sollers u.a., 1974; Rozitchner, 1989). Auch psychoanalytisch orientierte Sozialwissenschaftler interessieren sich wenig für den Staat. Enriquez fällt als Ausnahme auf (Enriquez, 1983).

Dieser Sachverhalt ist aus mehreren Gründen erstaunlich. So zunächst deswegen, weil der Staat für die organisierte Psychoanalyse von Anfang an von großer Bedeutung war und bis heute ist. Wie man am brasilianischen und an anderen Bespielen zeigen kann, ist der Staat in bezug auf die Psychoanalyse nicht interesselos. Sie kann als Theorie von ideologischem Interesse sein, nicht zuletzt aufgrund ihrer Neigung gesellschaftliche Sachverhalte psychologisch erklären zu wollen. Sie kann interessant sein als Instrument sozialer Kontrolle. Sie kann in Zeiten der Repression als sozialpsychologisch wirksames Ventil wirken und als Instrument der Entfremdung. Sie kann auch als spezifische Therapieform für bestimmte Zwecke interessant sein. So z.B. während des Ersten Weltkriegs, als sich die damals noch junge Psychoanalyse als wirksames therapeutisches Instrument bei der Behandlung von Kriegsneurotikern erwies.[2] Der Staat kann sie auf vielfältige Weise fördern, oder behindern. In manchen Ländern, wie z.B. Deutschland, anerkennt sie der Staat schon seit Jahren als eine der wenigen seriösen Varianten von Psychotherapie, die dementsprechend bei krankenkassenärztlichen Abrechnungen anerkannt wird.[3] In Brasilien findet man Psychoanalytiker in allen möglichen staatlichen Institutionen und manche von ihnen sogar als Abgeordnete in Parlamenten.[4]
Kurzum, der Staat kann sich die Psychoanalyse auf vielfältige Weise zu Nutzen machen. Er kann sie ideologisch, pädagogisch, therapeutisch, gesundheitspolitisch und für manipulative und repressive Zwecke nützen. Umgekehrt sind seine Familienpolitik, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik und Bildungspolitik von unmittelbarer Bedeutung für die Praxis der Psychoanalyse.
Im übrigen ist der Staat natürlich auch zuständig für Rechtsstreitigkeiten zwischen Analytikern, zwischen Analytikern und ihren Gesellschaften, zwischen Patienten und Analytikern u.a.. Eine Tatsache, die in den letzten Jahren ebenfalls im Alltag der brasilianischen Psychoanalytiker eine Rolle spielte, vor allem in Rio.
Wenn die politischen Verhältnisse danach sind, d.h. in nicht demokratischen Gesellschaften, können die staatlichen Behörden die Psychoanalyse einfach verbieten. Und selbst in demokratischen Gesellschaften kann der Staat gesetzlich regeln, was er als Psychoanalyse gelten lassen will. Eine Möglichkeit, die schon seit Jahren wie ein Damoklesschwert über den brasilianischen Psychoanalytikern hängt.[5] Einen Ansatz dazu gab es in Brasilien schon in den fünfziger Jahren (dazu unten.)
Alle diese Sachverhalte müßten bei den Psychoanalytikern ein erhebliches Interesse am Staat bewirken. Daß dem nicht so ist, ist aus einem weiteren Grund besonders erstaunlich. Freud hat mehrfach auf die psychologische bzw. sozialpsychologische Bedeutung des Staates hingewiesen. So vor allem in seinem Aufsatz „Massenpsychologie und Ich-Analyse“(Freud, 1921). Hier findet sich die Feststellung: "Jeder Einzelne hat so Anteil an vielen Massenseelen, an der seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemeinschaft, der Staatlichkeit usw. und kann sich darüber hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und Originalität erheben"(S. 145).
Im deutschen Text ist im Unterschied zur portugiesischen Übersetzung von „Staatlichkeit“ die Rede und nicht von „nacionalidade“ (Nationalität).[6] „Staatlichkeit“ kann zwar zur Not mit nacionalidade übersetzt werden kann, hebt aber den Bezug zum Staat deutlicher hervor. Freuds Feststellung ist im übrigen durchaus plausibel begründet, da er zeigen kann, warum es falsch ist, eine scharfe Grenze zwischen Individual- und Sozialpsychologie zu ziehen.

An Freuds Überlegungen zum Staat läßt sich allerdings bereits zeigen, daß die psychoanalytische Analyse des Staates mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, daß eine nur pychologisch-psychoanalytische Analyse unzureichend ist und seinem Wesen als sozialem Gebilde, d.h. überindividueller Einheit mit rechtlich geregelter Ordnung nicht gerecht wird.

Diesen Einwand hat schon bald nach der Veröffentlichung von Massenpsychologie und Ich-Analyse der schon damals bedeutende Staatsrechtler Hans Kelsen in einem brillanten Aufsatz ausführlich dargelegt(Kelsen, 1922a). Freud, so die Kritik Kelsens, hat nicht deutlich gesehen, daß seine Vorstellung vom Staat als einer der „stabilen Massen“, die sich hinsichtlich ihrer psychischen Struktur nicht prinzipiell von kurzlebigen Massen unterscheiden, falsch war. Im Gegensatz zu le Bon machte Freud allerdings nicht den Fehler, die Masse als Verkörperung einer Kollektivseele zu hypostasieren. Für ihn gab es nur die Seelen von Individuen und seine Psychologie blieb darin Individualpsychologie. Indem er aber unterstellt, durch Organisation ließe sich das Ziel erreichen, daß eine Masse die Eigenschaften des Individuums bekommt (Selbstvertrauen, Kritik, Verantwortungsgefühl, Gewissen), nimmt er eine Veränderung des Begriffs Masse vor. Masse war ja für ihn, wie er dargelegt hat, das Resultat einer spezifischen, doppelten affektiven Bindung ihrer Mitglieder untereinander und - über das suspendierte Ichideal - an den Führer oder – im Fall der stabilen Massen – an eine Idee. Die durch Organisation hergestellten artifiziellen Massen weisen aber offensichtlich nicht mehr die charakterliche Regression ihrer Mitglieder auf, für deren Erklärung Freud die affektiven Bindungen herangezogen hat. Gerade im Falle des Staates ist deutlich, daß seine Mitglieder keineswegs alle miteinander identifiziert sind. Und, so argumentiert Kelsen, im Falle des Staates ist die führende Idee der Staat selbst. Wäre Freud deutlich gewesen, daß „stabile Massen“ eben nicht die psychische Struktur aufweisen, wie er sie als Charakteristikum kurzlebiger Massen erkannt hat, hätte er sie wohl kaum als Massen bezeichnet.

Kelsen betont, wie Recht Freud hat, daß er konsequent am Individuum als einzigem psychologischem Bezugspunkt festhält. Seelisches ist nur im Individuum, d.h. in den Seelen der einzelnen Menschen möglich. Dementsprechend ist alles Überindividuelle bereits metapsychologisch. Auch schon die Wechselwirkung zwischen den Individuen. Es gibt keine höhere Form des Psychischen, es sei denn, man unterstellt eine alle Einzelnen umfassende Kollektivseele. Die vorausgesetzte Einheit des Staates ist somit außerpsychologisch, d.h. primär juristischen Charakters (Kelsen, 1922b).
Kelsens Kritik an Freuds Position ist zwar prinzipieller Art, aber keineswegs antipsychoanalytisch. Der Aufsatz ist nicht zufällig in der von Freud selbst herausgegebenen Zeitschrift „Imago“ veröffentlicht worden. Freud konnte aber Kelsens Argumentation nicht folgen. In einer Fußnote zu einer späteren Ausgabe (1923) von Massenpsychologie und Ich-Analyse stellte er klar, er könne "nicht zugeben, daß eine solche Ausstattung der 'Massenseele' mit Organisation, eine Hypostasierung derselben, das heißt die Zuerkennung einer Unabhängigkeit von den seelischen Vorgängen im Individuum bedeute" (Freud, 1921, S. 425). Er hat es bei dieser Feststellung belassen und ist nicht weiter auf Kelsens Argumente eingegangen.
Kelsen anerkennt, daß neben dem formalen Begriff des Staates „noch ein zweiter, wesentlich materieller und engerer Staatsbegriff unterschieden werden“ kann. Dieser habe allerdings den ersten zur Voraussetzung. Der Schöpfer der „reinen Rechtslehre“ sah den Staat wesentlich als eine „spezifische normative Einheit“ und nicht als „irgendwie kausalgesetzlich zu erfassendes Gebilde“(Kelsen, 1922b). Das Entstehen des „Normenkomplexes“, dessen Personifizierung der Staat ist, leitete er von einer „Urnorm“ ab (Assoun, 1993, S. 115). Nicht nur an dieser Stelle ist bei Kelsen zu spüren, wie sehr er von Freuds „wissenschaftlichem Mythos“ „Totem und Tabu“ beeindruckt war. Der Widerspruch zu Freuds Auffassung erscheint bei ihm insofern weniger stark als bei anderen Autoren, die auch schon zu Lebzeiten Freuds die Frage des Massencharakters gesellschaftlicher Institutionen in einer gesellschaftsmaterialistischen Perspektive diskutierten. Sie konnten sich von vorneherein nicht auf Freuds Auffassung einlassen. Denn auch wenn Freud den „zwingenden Einfluß, den die ökonomischen Verhältnisse des Menschen auf die intellektuellen, ethischen und künstlerischen Einstellungen haben“, durchaus sah (Freud, 1932, S.194), so hatte er letztlich doch kein Verständnis für die sozioökonomischen Determinanten gesellschaftlicher Institutionen und ihre organisatorischen und institutionellen Zwänge. Für ihn gab es nur zwei Arten von Wissenschaften, nämlich "Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde". Dementsprechend vertrat er die Auffassung "auch die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie“ (Freud, 1921, S. 194).
Die notwendige Kritik an einer solchen rein psychologischen Sicht individuellen und kollektiven Verhaltens hat Fenichel schon Mitte der 30er Jahre so formuliert: "Dieser Standpunkt übersieht nur einen Umstand: daß, wenn Menschen untereinander oder Menschen und Dinge in gegenseitige Beziehungen treten, diese Beziehungen als unsubstantielle und doch materielle Realitäten in einem Maß weiterwirken, daß sie nunmehr durch äußere Reize aller Art die Psyche des Menschen beeinflussen, obwohl sie selbst nicht mehr durch Psychologie erfaßt werden können. Die Existenz der gesellschaftlichen Institutionen als historisch gewordener Niederschläge der wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen ist nicht psychologisch zu erklären, sondern bei psychologischer Erklärung von Handlungen von Menschen als Gegebenheit zu betrachten"(Fenichel, 1935/1972, S. 132).
Aus mehreren Gründen, nicht zuletzt auf Grund der Zerstörung und Vertreibung der organisierten Psychoanalyse im faschistisch beherrschten Europa, wurden solche Überlegungen nicht weitergeführt. Erst nach dem 2. Weltkrieg, in den fünfziger Jahren, hat dies Elliot Jaques mit bahnbrechenden Arbeiten gemacht (Jaques, 1955; Jaques, 1955/1981). Im Anschluß an diese, z.T. aber auch unabhängig davon, haben mehrere Autoren in verschiedenen Ländern diesen Zweig psychoanalytischer Forschung weiterentwickelt.[7] So entstanden vor allem ab Mitte der 60er Jahre eine differenzierte psychoanalytische Institutionenanalyse und die Analyse von Organisationen, die Kelsens Kritik implizit Rechnung trugen. Zugleich verdeutlichte die psychoanalytische Institutionenanalyse jedoch auch, wie weitgehend Menschen tatsächlich nicht nur seelischen "Anteil haben" können an Gruppen und Institutionen, sondern dementsprechend diese umgekehrt zu Teilen der Seele des einzelnen Individuums werden. "Jede Institution ist", so stellte Bleger fest, ist "nicht nur ein Instrument der Organisierung, Regulierung und sozialen Kontrolle, sondern zugleich auch ein Instrument der Regulierung und des Gleichgewichts der Persönlichkeit"(Bleger, 1966, S. 80). Das liegt daran, wie Jaques dargelegt hat, daß die Individuen die Institutionen, denen sie angehören, dazu benützen, um ihre individuelle Abwehr gegen ihre Ängste zu verstärken, vor allem gegen die frühen paranoiden und depressiven Ängste, wie sie Melanie Klein beschrieben hat. Über unbewußte Projektionen bringen sie in den Institutionen, denen sie angehören, gerade die Triebregungen und inneren Objekte unter, die besonders angsterregend sind. Der Charakter von Institutionen resultiert nicht nur aus den deklarierten Zwecken, denen sie dienen sollen, bzw. ihren Funktionen, sondern auch aus ihren Funktionen auf der Ebene unbewußter Phantasien. Diese psychologischen Mechanismen machen verständlich, daß Menschen an Institutionen und Organisationsformen oft selbst dann noch festhalten und jede Veränderung ablehnen, wenn diese ihre expliziten Funktionen längst nicht mehr erfüllen oder gar unerwünschte Wirkungen haben.

Über Jaques hinausgehend, zeigte Bléger, daß Institutionen aber nicht nur der "Verwahrung" von psychotischen Ängsten dienen, sondern auch von dem, was in den Beziehungen als eine Art von Nicht-Beziehung als eine Art dauerhafter Basisstruktur existiert. Er nannte sie "synkretische Soziabilität". Daran anschließend hob Kaës hervor, daß Institutionen nicht einfach nur Orte sind, wo verdrängte Wünsche imaginär sich erfüllen, sondern daß in ihnen und durch sie auch die Abwehr gegen solche Wünsche organisiert wird. Er geht so weit, Freuds Formel "Wo Es war, soll Ich werden", auf Institutionen bezogen abzuwandeln in "Wo die Institution war, kann Ich werden" (Là où l'instituion était, du Je peut advenir")(Kaës, 1988, S. 3).

Rouchy (Rouchy, 1980, S. 33) hat zu Recht darauf hingewiesen, daß in den psychoanalytischen Diskussionen über Institutionen nicht immer deutlich zwischen Institutionen und Organisationen unterschieden wird. Erstere haben als solche keine Form. Sie aktualisieren und verkörpern sich in sozialen Organisationen. Wobei jede Institution sich nicht nur in einer Organisationsform aktualisiert und jede Organisation nicht nur mit einer einzigen Institution in Beziehung steht. Jede Organisation ist somit von verschiedenen Institutionen durchdrungen, die einander widersprechen und in der Organisationsstruktur permanente Konfliktquellen sein können. Das wäre auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den psychoanalytischen Organisationen und dem Staat zu berücksichtigen. Institutionen des Gesundheitswesens, des Rechtswesens, des Finanzwesens u.a. können einander widersprechende Einflüsse ausüben.[8]

Die psychoanalytischen Diskussionen über Institutionen und Organisationen tragen zwar zweifellos eine Menge zur Präzisierung der Freudschen These bei, daß jeder „Anteil hat an vielen Massenseelen“. Sie gehen aber in der Regel von der Institution als Gegebenheit aus. Wenn man sich jedoch um die Klärung der von Rouchy genannten Fragen in bezug auf eine bestimmte Organisation bemüht, muß man die Einwände Kelsens und Fenichels gegen Freud berücksichtigen. D.h. man muß die objektiven, gesellschaftlichen, ökonomischen, juristischen, ideologischen u.a. Determinanten der Organisation untersuchen, deren psychologischen Eigenschaften und Probleme man klären will. Das haben nur ganz wenige Psychoanalytiker und psychoanalytisch orientierte Sozialwissenschaftler getan.

Georges Devereux stellt diesbezüglich mit seiner, auf die Ethnopsychoanalyse bezogenen koplementaristischen Methode, eine herausragende Ausnahme dar. Er zeigt, daß es zwischen psychologischen Interpretationen menschlichen Verhaltens und soziologischen, die notwendig historische sein müssen, ein Verhältnis der Komplementarität gibt, das einen „pluridisziplinären“, Zugang, einen „doppelten Diskurs“ notwendig macht. Denn, „je besser wir eine Tatsache dieser Art im Rahmen psychologischer Begriffe und Methoden verstehen, desto weniger verstehen wir sie zugleich unter dem sozialen oder historischen Gesichtspunkt.“(Devereux, 1974, S.120). Das hat zum Teil damit zu tun, daß alles menschliche Verhalten überdeterminiert im Sinne Freuds ist. Man kann es mit Mitteln ganz verschiedener Art untersuchen, von denen jedes für sich genügt, um eine überdeterminierte Handlung voll und ganz zu erklären.

Diese Einsichten in bezug auf die Frage nach dem Verhältnis organisierte Psychoanalyse – Staat in Brasilien berücksichtigen zu wollen, ist nicht einfach. Der „doppelte Diskurs“ verlangt, daß in historischer Perspektive geklärt werden müßte, wie der Staat sich in den Zeiten, die für eine Klärung des Verhältnisses von Interesse sind, entwickelt hat und wie die organisierte Psychoanalyse. Dies würde eine sorgfältige Bestandsaufnahme der vorhandenen soziologischen und politökonomischen Untersuchungen des Staates voraussetzen.[9] Darüber hinaus wären zahlreiche Detailfragen der Beziehungen zwischen den psychoanalytischen Organisationen sowie den Psychoanalytikern und den staatlichen Organen zu klären, die bisher kaum untersucht worden sind. Was die Klärung des letzteren Aspektes betrifft, besteht eine zentrale Schwierigkeit darin, daß die psychoanalytischen Gesellschaften nicht sehr mitteilsam sind und ihre Akten zum Teil selbst für ihre Mitglieder unter Verschluß halten oder gar vernichtet haben.
Die hervorragend recherchierte Studie von Nadia Maria Sério über die SPRJ ist deswegen ein Glücksfall, weil es sonst wohl kaum je gelingen wird, so genaue Darstellungen der Interna anderer Gesellschaften zu bekommen(Sério, 1998). Bei meinen folgenden Anmerkungen zum Verhältnis Psychoanalyse und Staat in Brasilien muß ich mich dementsprechend auf einige allgemeine Feststellungen beschränken. Ich werde einige Besonderheiten des brasilianischen Staates hervorheben, die im Laufe der Zeit, seit Freud erstmals in Brasilien zur Kenntnis genommen wurde, für das Verhältnis organisierte Psychoanalyse – Staat von Bedeutung waren. Außerdem mache ich einige wenige Anmerkungen zur Entwicklung der psychoanalytischen Gesellschaften.

Der brasilianische Nationalstaat ist zu Beginn des 19. Jh. entstanden. Als am Ende des Jahrhunderts Freud erstmals in Brasilien erwähnt wurde, lagen die Sklavenbefreiung und die Abschaffung der Monarchie gerade erst ca. zehn Jahre zurück. Zur Etablierung der „alten Republik“ gehörte zwar nun die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse, aber die politischen und sozialen Strukturen blieben die eines von der exportorientierten Landwirtschaft dominierten Landes. Die Entwicklung industrieller Aktivitäten vollzog sich langsam und blieb im wesentlichen auf exportsubsistierende Produkte beschränkt. Dementsprechend gab es keine nennenswerte Bourgeoisie und nur eine verschwindend kleine Mittelschicht in den wenigen größeren Städten in Küstennähe. Unter diesen Voraussetzungen war die Psychoanalyse zunächst nur für einige Spezialisten, d.h. Ärzte und Psychiater als Theorie und Ideologie von Interesse.

Schon in der „Alten Republik“ wuchsen die Städte mit zunehmenden industriellen Aktivitäten, vor allem Rio, São Paulo und Porto Alegre schnell. Die Bevölkerung von Rio de Janeiro hat sich in den Jahren zwischen 1900 und 1920 verdreifacht. São Paulo und Porto Alegre wuchsen noch schneller. Diese Entwicklung paßte immer weniger zu den bestehenden politischen Strukturen. Als Folge davon wurden die 20er Jahre politisch, sozial und kulturell zunehmend unruhig. In der Mittelklasse rumorte es. Künstler und Literaten entwickelten ein neues, brasilianisches Selbstbewußtsein. Es fand 1922 in São Paulo in einer "Woche der modernen Kunst" und in der modernistischen Bewegung, deren Anfang sie darstellte, einen aufsehenerregenden Ausdruck. Gegen das alte System formierte sich in den Städten eine heterogene Opposition von Beamten, Ärzten, Anwälten, Journalisten und anderen Angehörigen der Mittelklasse, deren Vorhut von jungen Offizieren gebildet wurde. Die städtischen Gruppen waren aber allein noch viel zu schwach, um das Regime in ihrem Sinne zu verändern. In der Revolution von 1930, mit der das moderne Brasilien beginnt, spielte das Proletariat überhaupt keine Rolle. Sie wurde nur möglich, weil sich die agrarische Oligarchie zerstritt.

Die Modernisten sahen in der Psychoanalyse vor allem eine Theorie, die es ihnen erlaubte, ihren avantgardistischen Subjektivismus theoretisch zu begründen. Sie sollte künstlerische und soziale Experimente und Grenzverwischungen zwischen verschiedenen Bereichen rechtfertigen. Man bediente sich Freuds, um die europäisch geprägte Zivilisation zu kritisieren und um die Peripheriekulturen, wie die brasilianische, aufzuwerten. In einer konservativ – elitären Einstellung wollten einige Psychoanalyse auch als Privileg der Dichter in Anspruch nehmen (Facchinetti, 2001). Der Einfluß der Psychoanalyse auf Literaten und Künstler war beträchtlich. Es ist seit damals eine Konstante in der Geschichte der brasilianischen Psychoanalyse, daß Psychoanalytiker oft auch selbst Literaten sind, bzw. ein ausgeprägtes Interesse an Literatur und Kunst haben.

Für eine dauerhafte eigenständige Organisierung der Psychoanalyse waren in den 20er Jahren die gesellschaftlichen Voraussetzungen noch nicht gegeben. Die 1927 auf Betreiben von Durval Marcondes, dem Arzt, Psychiater und Literaten, zusammen mit anderen Wissenschaftlern und Künstlern gegründete psychoanalytische Gesellschaft und ihre Filiale in Rio, sowie die ein Jahr später gegründete Revista Brasileira de Psicanálise, überlebten nur kurze Zeit. Wie sich später zeigte, war außer Marcondes keiner der psychoanalytisch interessierten Beteiligten bereit, sich psychoanalytisch ausbilden zu lassen. Es gab aber in diesen Jahren, vor allem in Rio, mehrere Psychiater, die „wilde“ Psychoanalyse praktizierten. Sie waren Angehörige der noch dünnen, weißen städtischen Mittelschicht. Der Staat, mit dem sie es zu tun hatten, wurde von der ländlichen Oligarchie beherrscht. Sie waren als Ärzte und Psychiater allenfalls gefragt, wenn es um die hygienische Sanierung und Seuchenbekämpfung in den Städten ging. Als städtische Elite waren sie aber mit dem Wohl des Landes, wie sie es verstanden, identifiziert. Sie machten sich Sorgen, wie die rassisch und kulturell gemischten und gesellschaftlich unzulänglich integrierten, städtischen Massen unter Kontrolle gebracht werden könnten. Zu ihren hygienisch-pädagogisch-therapeutischen Vorstellungen über Degeneration, minderwertige Rassen etc., paßte das mit einer psychoanalytischen Ausbildung verbundene Aufgeben der üblichen ärztlichen Einstellung und das sich selbst als Patient erleben, aber nicht. Sie begnügten sich damit, die Psychoanalyse ihren Zielen der sozialen Kontrolle und Erziehung, aber auch rassehygienischen, eugenischen Zielen anzupassen.[10] Daß diese dabei nicht angemessen rezipiert wurde, versteht sich von selbst.

Als Durval Marcondes Anfang der dreißiger Jahre versuchte, Lehranalytiker nach São Paulo zu holen, wandte er sich bei einem zweiten Anlauf 1934 an den damaligen von der Bundesregierung eingesetzten „Interventor“ und späteren Gouverneur von São Paulo, Armando de Sales Oliveira, und dessen Schwager Julio de Mesquita Filho, den einflußreichen Chef der Tageszeitung Estado de São Paulo. Die Situation war eigentlich günstig, da der Gouverneur in einer Verbesserung des Bildungssystems einen wichtigen Faktor des Fortschritts sah und zu dieser Zeit die Universität von São Paulo (USP) aufbaute. Dazu bemühte man sich um die Beteiligung von ausländischen Professoren aus Deutschland, Frankreich und Italien. Der Widerstand gegen die Psychoanalyse war in der medizinischen Fakultät jedoch zu groß, als daß auf diese Weise auch ein Psychoanalytiker auf einen Lehrstuhl hätte berufen werden können(Sagawa, 1994). Dies gelang dann 1939 als an der Escola Livre de Sociologia e Política ein Lehrstuhl für Psychoanalyse eingerichtet wurde(Bicudo, 1948). Marcondes war der erste Inhaber, Adelheid Koch seine Assistentin. An ihre Stelle trat wenige Zeit später Virginia Bicudo. Koch hatte, um vor den Nazis zu fliehen, im Jahre 1936 die Einladung nach São Paulo angenommen und arbeitete dort seit 1937 als erste Lehranalytikerin in Brasilien und baute die 1951 anerkannte Brasilianische Psychoanalytische Gesellschaft von São Paulo (SBPSP) auf.

Bis in die Mitte der dreißiger Jahre gab es somit in Brasilien keine organisierte Psychoanalyse, aber auch keinen im engeren Sinne bürgerlichen Staat, der das Komplement einer bürgerlichen Gesellschaft gewesen wäre. Diese Tatsache stellte für den Präsidenten Vargas, der ein modernes Brasilien aufzubauen begann, eine zentrale Schwierigkeit dar. Um die dafür notwendige Infrastruktur, den Aufbau einer Basis- bzw. Schwerindustrie und die Verstaatlichung der wichtigsten Ressourcen usw. durchsetzen zu können, baute er im Laufe der Jahre einen zentralisierten Interventionsstaat mit mehreren neuen Ministerien, nationalen Instituten für die Kontrolle wichtiger Exportgüter und Bodenschätze und einem aufgeblähten Verwaltungsapparat auf. Dieser war nicht nur funktional notwendig, sondern diente auch der Arbeitsbeschaffung für die städtische Mittelklasse. Der politische Rückhalt, den sich Vargas dadurch schuf, wurde allerdings erst später im formaldemokratischen Populismus der Nachkriegsjahre wichtig. Schon bald setzte Vargas seine Politik, die das politische und soziale System grundlegend veränderte und damit erhebliche Konflikte verursachte, zunehmend autoritär und schließlich in Form des faschistoiden Estado Novo durch. In diesem wurden die städtisch-industriellen Klassenkonflikte in einem korporativistischen System von Arbeiter- und Arbeitgebergewerkschaften unter Kontrolle gebracht(Füchtner, 1972). Die Interessen der noch immer sehr mächtigen Vertreter des ländlich-konservativen Brasiliens und der noch relativ jungen „nationalen“ Bourgeoisie wurden aufeinander abgestimmt bzw. zusammengezwungen. Die politischen Interessen dieser politisch-ökonomischen Koalition wurde nach der Demokratisierung des Landes am Ende des zweiten Weltkrieges durch die Gründung einer konservativen Partei (PSD) Rechnung getragen. Als darauf bezogener politischer Gegenspieler, der die Interessen der Arbeiterschaft kanalisieren und damit unter politischer Kontrolle halten sollte, wurde die „Arbeiterpartei“ (PTB) gegründet. Die UDN war die Partei der eigentlichen Gegner von Vargas. Diese Konstellation dauerte bis 1964. Nachdem sich im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre die sozialstrukturellen und politischen Konflikte erheblich verschärft hatten, setzte das Militär dem demokratischen Prozeß ein jähes und brutales Ende. Die dazugehörige soziale Konstellation ändert sich dann im Laufe der Jahre der Diktatur.

Der brasilianische Staat begnügte sich also nach 1930 nicht mit der Sicherstellung der für die kapitalistische Produktion notwendigen äußeren ökonomischen und infrastrukturellen Voraussetzungen - wobei er zunehmend selbst zum Unternehmer wurde -, sowie der Verstaatlichung der Klassenkonflikte, sondern er organisierte das Produktionssystem der kapitalistischen Akkumulation auch von innen her. Es entstand nicht aus der Eigendynamik einer autonomen, sondern der Dynamik einer abhängigen Nation ohne ausgebildete bürgerliche Gesellschaft. Bis zu einem gewissen Grad mußte der relativ autonome Staat selbst die allgemeinen sozialen und sogar psychologischen Bedingungen schaffen, die in unabhängigen entwickelten kapitalistischen Ländern von der Gesellschaft und dem Staat gemeinsam oder auch im Konflikt miteinander geschaffen werden. Die städtische Bevölkerung war allein immer noch nicht stark genug, die Durchsetzung der Dominanz der „städtischen Werte“ (Albuquerque, 1981, S. 575) und Lebensformen, sowie der (sub-) kapitalistischen Konsumorientierung zu garantieren, die ab 1930 auf der Tagesordnung standen. Das hatte aber zur Folge, daß alles Tun und Lassen relevanter gesellschaftlicher Gruppierungen unmittelbar politische Bedeutung bekam, weil es keine dem Staat gegenüberstehende organisierte "Gesellschaft" gab, die als Vermittlungsinstanz zwischen den besonderen Interessen und dem allgemeinen Interesse hätte wirken können. Der umfassende Gestaltungsanspruch des Staates erstreckte sich dementsprechend tendenziell auf alle Bereiche des städtischen Lebens. Er wurde allerdings durch die Ineffektivität der Bürokratie begrenzt, die andererseits auch zweckmäßig war, insofern sie auch der Neutralisierung bzw. bürokratischen Erledigung unerwünschter Forderungen und Interessen diente.

Das klassische Beispiel für den genannten umfassenden Gestaltungsanspruch des Staates, stellen die Sambaschulen in Rio dar. Diese wurden gegen Ende der 20er Jahre von Teilen der Unterschicht geschaffen. 1930 defilierten erstmals fünf Sambaschulen auf der Praça Onze. In den Jahren 1932 und 1933 finanzierten zwei Zeitungen die Umzüge, bei denen die beteiligten Gruppierungen um die beste Darbietung konkurrierten. 1935 wurde der erste offizielle Wettbewerb zwischen den Sambaschulen ausgetragen. Danach übernahm der Staat die Kontrolle. Er unterstützte die Sambaschulen finanziell. Als Preis dafür waren diese verpflichtet, sich offiziell registrieren zu lassen. Jede registrierte Sambaschule war offiziell ein "Gremio Recreativo Escola de Samba" (Unterhaltungsvereinigung Sambaschule). Für die Umzüge wurden verbindliche Regeln erlassen. Die damals vorgeschriebenen Bestandteile der defilierenden Gruppen und ihre Reihenfolge bei den Umzügen blieben bis in die 50er Jahre hinein im wesentlichen unverändert. Seit damals spielt der "samba-enredo" eine zentrale Rolle, d.h. der Samba, den die defilierenden Teilnehmer einer Sambaschule singen, und der dem jeweils gewählten Thema der Schule inhaltlich entspricht. Im Jahre 1939 ordnete die Abteilung für Presse und Propaganda der Regierung (Departamento de Imprensa e Propaganda) an, daß alle sambas enredo ein Thema aus der Geschichte Brasiliens zum Gegenstand haben mußten. Diese Vorschrift ist zu einer bis heute geachteten Tradition geworden.
Es ließen sich andere Beispiel nennen. So vor allem der Sport und hier insbesondere der Fußball. Bei diesen Beispielen handelt es sich um Aktivitäten des „Volkes“, die man unter eine lose, aber effektive Kontrolle brachte. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß wenn die ab 1937 in São Paulo entstehende erste psychoanalytische Gesellschaft schon damals als außeruniversitäre wissenschaftliche, quasi ärztliche Gesellschaft eine nennenswerte gesellschaftliche Bedeutung gehabt hätte, auch sie staatlich reglementiert worden wäre. Eine Überlegung, die im Hinblick auf die Beziehungen zwischen der organisierten (IPA-)Psychoanalyse und staatlichen Behörden in späteren Jahren keineswegs abwegig ist.

Tatsächlich hat der Staat nach dem Ende des Estado Novo bei den Bemühungen einiger Psychiater in Rio de Janeiro, eine nach den Regeln der IPA organisierte Psychoanalyse aufzubauen, eine wichtige Rolle gespielt. Die Verpflichtung von Mark Burke und Werner Kemper als ersten Lehranalytikern der IPA in Rio im Jahre 1948. wurde unter Beteiligung des Außenministeriums ausgehandelt. Die meisten der ersten Kandidaten bekamen für ihre psychoanalytische Ausbildung Stipendien des staatlichen Dienstes für Geisteskrankheiten (Serviço Nacional de Doenças mentais, SNDM). Auch später noch hat der Staat erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt. So vor allem für die Finanzierung des Sitzes der SPRJ, der sogenannten Rio 1(Sério, 1998). Dieses Verhalten läßt sich schon zur Zeit der Regierung Dutra (1946-1951), aber erst recht später, wohl kaum noch als Resultat eines zielstrebigen spezifischen politischen Gestaltungsanspruchs des Staates erklären. Dies erscheint unter anderem schon deswegen als nicht plausibel, als ebenfalls in Rio, 1953, also wenige Jahre nach dem Kommen von Burke und Kemper, von Iracy Doyle eine kulturalistisch orientierte psychoanalytische Gruppe (Instituto de Medicina Psicológica) gegründet wurde, ohne daß dabei staatliche Stellen beteiligt gewesen wären. Kempers Befürchtung, das im selben Jahr neu gegründete Gesundheitsministerium werde wohl den Psychoanalytikerberuf regeln und ausschließlich Medizinern vorbehalten(Sério, 1998, S. 262), erwies sich als unbegründet.
Der berufliche Status der Psychoanalytiker blieb aber unklar. Es wäre sonst nicht möglich gewesen, daß Werner Kemper 1955 auf Grund einer Intrige psychoanalytischer Kollegen beschuldigt wurde, unerlaubter Weise ärztlich tätig zu sein, und zusammen mit der Analysandin, die gerade bei ihm auf der Couch lag, verhaftet wurde.[11] Es soll auch zwei Jahre später zu ähnlichen Polizeiaktionen gegen Psychoanalytiker gekommen sein(Bicudo, 1989, S. 96). Daraufhin hat dann der damals zuständige Gesundheitsminister der Regierung Kubitschek, Maurício de Medeiros, ein Arzt und Politiker, der an der Psychoanalyse sehr interessiert war und jahrelang freundschaftliche Beziehungen mit Kempers Gruppe unterhielt, durch einen Erlaß (norma) für Rechtssicherheit gesorgt[12]. Der zunächst für die IPA Psychoanalytiker in Rio geltende Erlaß wurde dann auf Bitte von Adelheid Koch ausdrücklich auch auf São Paulo und andere Orte ausgedehnt. In dem Erlaß heißt es, so lange es kein Gesetz gebe, das die Ausübung der Psychoanalyse reglementiere, solle gelten, daß auch Laienanalytiker psychoanalytisch arbeiten dürfen, wenn sie nach den Regeln der IPA ausgebildet sind und ihnen ihre Klienten von ärztlichen Kollegen überwiesen worden sind(Medeiros, 1957).
Eine beträchtliche materielle Hilfe bekam die SPRJ dann auch, als sie für ihren ständigen Sitz ein Haus kaufen wollte, in der sie bis heute untergebracht ist. Auf Grund von persönlichen Beziehungen zweier in Ausbildung befindlicher Analytiker gewährten das Gesundheitsministerium und der Präsident der Republik Kredite von je einer Million Cruzeiros und die Stadt Rio de Janeiro von 50000 Cr$ (Sério, 1998, S. 267)
Eine staatliche Anerkennung besonderer Art wurde 1963 Werner Kemper zuteil. Er wurde für seine Verdienste beim Aufbau der Psychoanalyse in Rio mit dem Orden do Cruzeiro do Sul ausgezeichnet. Wie auch schon bei der Finanzierung hat dabei Leão Cabernite eine wichtige Rolle gespielt. Obwohl er erst 1959 assoziiertes Mitglied wurde, hatte er schon während seiner Analyse bei Kemper als Freund und ehemaliger Studienkollege des Präsidenten Kubitschek (1956-1961) in seiner psychoanalytischen Gesellschaft beträchtlichen Einfluß. In späteren Jahren war er dann auch als Sekretär der Gesellschaft (1969 -1971) und schließlich in den Jahren 1972 bis 1979 als Präsident der SPRJ eine dominierende Figur.

Ob die Beziehungen der SPRJ zu staatlichen Stellen ein Sonderfall waren oder nicht, läßt sich anhand der Publikationen, die über die psychoanalytischen Gesellschaften zugänglich sind, nicht beantworten. Vermutlich waren sie aufgrund der personellen Konstellationen besonders gut. Es allerdings naheliegend anzunehmen, daß auch andere IPA-Gesellschaften in ähnlicher Weise in den Genuß staatlicher Vergünstigungen gekommen sind. Man wird allerdings kein allzu großes spezielles Interesse des Staates an diesen Organisationen unterstellen können. Sie waren bis weit in die sechziger Jahre hinein sehr kleine Gruppierungen deren Binnenbeziehungen quasi familiären Charakter hatten. Die SPRJ zählte in diesen Jahren ca. ein Dutzend ordentliche Mitglieder, von denen die meisten Lehranalytiker waren. Dazu kamen anfangs ebenso viele und später etwa doppelt so viele außerordentliche Mitglieder. All zwei Jahre wurden zehn, zwanzig oder dreißig, erst später dann in den 70er Jahren auch ca. vierzig Ausbildungskandidaten angenommen(Sério, 1998). Dasselbe dürfte auch hinsichtlich der Präsenz der Psychoanalyse in den Medien gelten, obwohl die schon in den dreißiger Jahren, aber auch in den Nachkriegsjahren ganz beachtlich war. In den Nachkriegsjahren und bis zur Etablierung der lacanianischen Gruppen verfügten die Psychoanalytiker der IPA-Gesellschaften de facto über das psychoanalytische Interpretationsmonopol.[13] Bis zu dieser Zeit war es aber noch nicht Mode eine Psychoanalyse machen.

Die Logik der Beziehungen zwischen organisierter Psychoanalyse und Staat in den Jahren des Populismus ist somit wohl dieselbe wie die der Beziehungen anderer Organisationen zum Staat. Sie ergibt sich aus den Besonderheiten der Staatsapparate dieser Zeit. Wie schon erwähnt, waren diese seit den 30er Jahren aufgebläht. Das von 1930 an gegebene Mißverhältnis zwischen nach politischen und nach fachlichen Gesichtspunkten besetzten Stellen verschärfte sich in den Jahren des Populismus, als politische Parteien ein Rolle spielten, Parteien, die kein deutliches programmatisches Profil besaßen und schlecht organisiert waren. Der Einfluß einzelner politischer Führer und deren Beziehungen waren wichtiger als ideologische, programmatische und organisatorische Gesichtspunkte. Außerdem gab und gibt es einen Parallelismus staatlicher Organisationen. Vor allem die Regierung Kubitschek gründet zahlreiche Sonderkommissionen, Beratergremien, dem Präsidenten direkt unterstellte Planungs- und Entwicklungsorganisationen u.a.. Unter Quadros wurde diese Parallelverwaltung quasi zur Regierung. Dazu kommt ein Parallelismus, der bis heute eine große Rolle spielt, nämlich der von Bundesbehörden und einzelstaatlichen Behörden, die oft mit den gleichen Sachverhalten befaßt sind, ohne ihre Aktionen aufeinander abzustimmen. Die Folgen dieser Eigenschaften des populistischen Staates waren eine Ineffizienz, die oft auch als Mittel diente, unerwünschte Tendenzen und Forderungen bürokratisch zu blockieren. Vor allem aber gehörten dazu Ämterhäufung, Inkompetenz, Nepotismus und Korruption. Wohlwollend formuliert, kann man sagen, daß die Mechanismen zwischen Staat und Gesellschaft klientelistisch waren. Persönliche Beziehungen spielten eine dominierende Rolle. Der Staat verfolgte zwar keinen umfassenden Gestaltungsanspruch der Gesellschaft mehr, konnte aber punktuell überall seinen Einfluß geltend machen.

Von daher läßt sich feststellen, daß die Beziehungen der organisierten Psychoanalyse zum Staat typisch waren und kein spezielles Interesse des Staates an ihr beweisen. Außerdem kann man allerdings feststellen, daß die Binnenbeziehungen in diesen Gesellschaften denen des politischen Systems erstaunlich homolog waren. Die wesentlichen Unterschiede, vor allem der noch ausgeprägter familiale Charakter der Beziehungen, sind leicht als Folge der geringen Größe dieser Organisationen erklärlich. Die These, die psychoanalytischen Gesellschaften seien zu Staatsapparaten im Sinne einer materialistischen Staatstheorie geworden, findet so einerseits eine Bestätigung, andererseits aber auch ihre relativ enge Grenze[14].

In den 70er Jahren hat sich die Situation der organisierten Psychoanalyse enorm verändert. Der einsetzende Boom der Psychoanalyse ist ein komplexes Phänomen, das in diesen Jahren auch in anderen Ländern zu beobachten war. In Brasilien war er allerdings besonders ausgeprägt. Die schlimmsten Jahre der Diktatur wurden für die Psychoanalytiker zur goldenen Zeit, zum lukrativen Boom, der die städtische brasilianische Kultur zur psychoanalytisch durchdrungenen werden ließ(Figueira, 1985). Das hatte eine ganze Reihe von Gründen. Obwohl die Notwendigkeit einer umfassenden Agrarreform immer deutlicher wurde, betrieb das Militär den Aufbau eines agroindustriellen Komplexes, der erst recht Großgrundbesitz, wenn auch modernerer Art, voraussetzte. Das ländliche Proletariat wurde mehr denn je in Massen in die Städte vertrieben. Die Zerstörung des herkömmlichen formaldemokratischen populistischen Systems bedeutete das Ende der bis dahin relativ gemütlichen Existenz eines Heeres von Beamten der aufgeblähten Staatsbürokratie. Die kritische Intelligenz wurde kaltgestellt oder vertrieben. Es herrschten Militärs und willfährige Technokraten. Die übrige Mittelklasse hatte nichts mehr zu sagen. Sie hat anfangs darunter nicht sehr gelitten, da das neue Regime ihr zunächst ein beeindruckendes, aber durch gigantische Auslandsschulden finanziertes, kurzlebiges Wirtschaftswunder bescherte. Man zog sich aus dem öffentlichen Leben in die sich verändernde Familie zurück und erfreute sich neuer Arbeits- und Konsummöglichkeiten. Dazu gehörte auch die Psychoanalyse.

Zu den Veränderungen der Familie der besser gestellten Schichten gehörte unter anderem die Emanzipation vieler Frauen von ihrem Hausfrauendasein. Sie wurde ihnen dadurch erleichtert, daß Dienstmädchen leicht zu bekommen waren. Die rasche Verbreitung des Fernsehens war ebenfalls sehr folgenreich. Private Probleme und das Interesse an Intimität und Authentizität gewannen an Bedeutung. Zur Politik der technokratischen "Modernisierung" gehörte auch der Ausbau entpolitisierter Bildungsinstitutionen. Private geistes- und sozialwissenschaftliche Fakultäten oft niedrigen Niveaus, für deren Gründung man nur Lehrpersonal und Räume brauchte, schossen wie Pilze aus dem Boden.

Diese "Modernisierung" der städtischen Lebensverhältnisse schuf so ein sozialpsychologisches Klima, das das Interesse an der Psychoanalyse sehr beförderte. Besonders folgenreich für die weitere Entwicklung der Psychoanalyse war aber auch, daß an den Hochschulen immer mehr Psychologen ausgebildet wurden. Ihr Studium gab es erst seit Anfang der 60er Jahre. Es wurde 1964 und dann vor allem 1975 gesetzlich reglementiert. Für die Psychologen existierte jedoch noch gar kein entsprechender Arbeitsmarkt. Für die Nachfrage nach Psychotherapie waren sie unzureichend qualifiziert. Ihr Interesse an psychotherapeutischen Zusatzqualifikationen förderte wesentlich den Psychoboom mit einer Vielzahl konkurrierender Therapievarianten (Figueiredo, 1984). Die psychoanalytischen Gesellschaften nahmen aber ungeachtet der wachsenden Nachfrage weiterhin nur wenige Kandidaten an. Meist Mediziner. In Rio wurden in den IPA-Gesellschaften, ungeachtet ihrer Geschichte, in der Laien eine wichtige Rolle spielten, und zum Teil im Widerspruch zu den Statuten, de facto nur Mediziner zur Ausbildung zugelassen.

Einzelne Psychoanalytiker kamen schließlich den Ausbildungswünschen von Psychologen entgegen, taten dies aber außerhalb ihrer Gesellschaft. Ab Beginn der 70er Jahre und vor allem ab 1976 eröffneten auch einige zugereiste argentinische Psychoanalytiker diese Möglichkeit. Entscheidend für die weitere Entwicklung wurde dann die Verbreitung des Lacanismus. Mitte der 70er Jahre entstanden in Rio und São Paulo die ersten lacanianischen Gruppierungen. Gegen Ende des Jahrzehnts folgten vor allem in Rio, aber auch in anderen Städten, zahlreiche weitere Gründungen von Gruppen, die außer der Begeisterung für Lacans Theorie nichts miteinander verband. In vielen großen Städten Brasiliens entstanden lacanianische Vereinigungen, IPA-Gesellschaften und study groups dagegen bisher nur in neun Städten. In drei weiteren Städten gibt es organisatorische Anfänge zum Aufbau neuer IPA-Gruppen.

Die Rezeption Lacans hat die wissenschaftlichen Diskussionen der brasilianischen Psychoanalytiker zweifellos belebt und bereichert, auch wenn lacanianische Publikationen relativ häufig einen eher selbstreferenten Charakter haben, als daß sie für weiterführende Diskussionen geeignet wären. Die Verbreitung lacanianischer Gruppen und Grüppchen bedeutete außerdem, angesichts der formal relativ unpräzisen und im Vergleich zu den IPA-Gesellschaften weniger strengen Ausbildungsvorschriften der Lacanianer, daß es für die Psychologen schon seit vielen Jahren praktisch keine Hindernisse mehr gibt, Psychoanalytiker zu werden. Ein ganzes Heer von lacanianischen Psychoanalytikern wurde ausgebildet. In diesen Jahren wurde die Psychoanalyse auch zunehmend zu einem an den Universitäten gelehrten wissenschaftlichen Fach. In der Militärdiktatur wurde die Psychoanalyse für diejenigen, die es sich leisten konnten, eine Möglichkeit durch eine Art innerer Emigration den miesen politischen Verhältnissen auszuweichen[15]. Die Nachfrage war enorm. Wer Psychoanalytiker war, hatte finanziell ausgesorgt.

Der autoritäre Staat demontierte das flexible System der selektiven Interessenberücksichtigung und Nichtberücksichtigung des populistischen Staates. Dazu gehörte das Verbot der alten Parteien, die rabiate Unterdrückung der Arbeiterschaft, dazu gehörten Folter und Morde. Dazu gehörte die „Privatisierung“ des Staates, d.h. das Eindringen von Unternehmern, Bankiers und anderen Interessenvertretern des Kapitals und eine enge Verflechtung von privaten Interessen dieser Kräfte und den öffentlichen Funktionen. Paradoxerweise hat der Staat in der Diktatur auch angefangen, einerseits die populistische Einmischung in alle gesellschaftlichen Bereiche abzuschaffen, während er andererseits gleichzeitig die ganze Gesellschaft unter repressive Kontrolle gebracht hat. Das könnte eine Rolle dabei gespielt haben, daß die Psychoanalyse generell vom Staat in Ruhe gelassen worden ist. Von deren Standesvertretern war ohnehin keine Opposition zu befürchten. Abgesehen davon wurden die Psychoanalytiker mit den Opfern staatlicher Repression konfrontiert. Trotzdem wurden Kollegen, die gegen die Unterdrückung opponiert haben, nicht nur nicht unterstützt, sondern im Stich gelassen und sogar unter Druck gesetzt. Das Verhältnis der psychoanalytischen Gesellschaften zum Staat in diesen Jahren, ist ein trauriges Kapitel.[16] Wichtiger und erstaunlich allerdings ist, wie
weitgehend die IPA-Gesellschaften sich in diesen Jahren dem autoritären Staat nicht nur angepaßt, sondern auch in ihren Organisationen angeglichen haben. Das läßt sich nicht nur am Verhalten der beiden Gesellschaften in Rio zeigen, sondern auch andernorts (vergl. Sister;Taffarel, 1996).

Der Prozeß der Redemokratisierung hat vom Ende der 70er Jahre bis in die Mitte der 80erJahre lange gedauert. Die Staatsapparate und die Parteien weisen bis heute noch immer zu einem erheblichen Maß die traditionellen Mängel auf. Es gibt allerdings auch Verbesserungen. So z.B. im Bereich der Justiz. Und immerhin hat die Partei, der der seit 2003 regierende neue Präsident angehört, wenn auch kein sehr scharf umrissenes, so doch ein erkennbares programmatisches Profil. Um von diesem Staat etwas zu bekommen genügen jedoch persönliche Beziehungen nicht mehr. Die psychoanalytischen Organisationen müßten ihre Interessen als Lobby organisiert vertreten. Das jedoch ist gar nicht möglich. Dazu sind die Verhältnisse inzwischen zu chaotisch geworden. Die Situation wurde in neuester Zeit zusätzlich dadurch noch problematischer, daß presbyterianische und baptistische Sekten dazu übergegangen sind, ganze Scharen von "Psychoanalytikern" auszubilden. Allein zwischen 1996 und 2000 bekamen nach zweijährigen Kursen, die zum Teil als Fernkurse organisiert waren, 1400 Absolventen ihre Diplome ausgehändigt (Veja, 20, September 2000). Zum "Lehranalytiker" kann man dann in einem halben Jahr ausgebildet werden. Diese Psychoanalysesekte, die sich als Sociedade Psicanalítica Ortodoxa do Brasil (SPOB) organisiert hat, gibt es bereits in mehr als 30 Städten Brasiliens.

Insofern hat die Krise der Psychoanalyse, die ansonsten auch in anderen Ländern festzustellen ist, in Brasilien einen besonderen Charakter. Seriöse und unseriöse Psychotherapeuten bieten "Psychoanalyse" bzw. psychoanalytische Psychotherapie an. Die Konkurrenz ist groß. Auch eine solide psychoanalytische Ausbildung garantiert allein das berufliche Überleben nicht mehr. Das trägt unter anderem dazu bei, daß es keine Organisationen gibt, die die Interessen aller tiefenpsychologisch orientierten Psychoanalytiker vertreten könnten[17]. Die Idee, der Staat könnte durch Gesetze die Berufsbezeichnung „Psychoanalytiker“ schützen und dabei definieren, was als Psychoanalyse gelten kann und was nicht, ist abwegig. Der Staat hat ebenso wenig die Kompetenz zu definieren, was Psychoanalyse ist, wie definitorisch festzulegen, was als Soziologie oder Quantenphysik anerkannt werden soll. Eine solche Fixierung des Staus quo einer wissenschaftlichen Disziplin und damit die Ausgrenzung künftiger Entwicklungen wäre unsinnig. Man stelle sich vor, man hätte Ende der 50er Jahre von Staats wegen definiert, was zur Psychoanalyse gehört und was nicht. Damals hielt die IPA Gruppenpsychotherapie noch für ein außerpsychoanalytisches Thema (Sério, 1998, S. 286).An einer gesetzlichen Regelung können unter den heutigen Gegebenheiten nur diejenigen interessiert sein, die sich auf diese Weise eine Reputation verschaffen wollen, die sie als sektenartige Gruppen sonst nicht bekommen können. Seriöse Psychoanalytiker dagegen können eine solche Möglichkeit nur befürchten. Auch der heutige Staat selbst, dem eine entwickelte zivile Gesellschaft gegenübersteht, kann daran gar kein Interesse haben. Es wäre ein Stich in ein Wespennest. Woran der Staat allerdings interessiert sein muß, und zwar in dem Maße, in dem er Sozialstaat ist und das Gesundheitswesen, das Bildungswesen, Sozialarbeit u.a. politisch gestaltet, ist, daß psychotherapeutisch ausgebildete Fachleute, die in staatlichen Institutionen oder mit staatlich Mitteln finanziert arbeiten, kompetent sind. Eine solche Kompetenz kann der Staat aber auch nicht inhaltlich definieren, sondern nur formal, d.h. im Hinblick auf die Anforderungen der Ausbildung (wissenschaftliches universitäres Niveau und Art der Ausbildungsinstitutionen, Dauer der Ausbildung, Prüfungen etc.).

Das berufliche Schicksal der meisten brasilianischen Psychoanalytiker wird überwiegend von den Gesetzen des Therapiemarktes bestimmt. Dabei geraten sie zu allem hin auch noch in Konkurrenz zu therapeutischen Prozeduren ganz anderer Art, nämlich der Vielzahl umbandistischer, spiritistischer, esoterischer und anderer religiöser Gruppen. Um so wichtiger ist, daß die psychoanalytischen Ausbildungsinstitutionen ein gesichertes wissenschaftliches Niveau haben und daß sie einen engen Kontakt zur Psychoanalyse an den Universitäten halten. Sie müssen selbst auch systematisch forschen und sich darüber mit den Universitäten und anderen Institutionen austauschen. Der häufig sehr selbstreferente Charakter der Diskussionen in einer Vielzahl kleiner psychoanalytischer Gruppen, deren Existenz oft wesentlich von einer führenden Figur bestimmt wird, nützt dem öffentlichen Ansehen der Psychoanalyse wenig.

In welcher Form die Psychoanalyse überleben wird, bzw. kann, ist gegenwärtig nicht nur in Brasilien unklar. Die Zahl derer, die sich als Psychoanalytiker ausbilden lassen, ist weltweit drastisch gesunken. Das Ansehen der Psychoanalyse in der Öffentlichkeit auch. Das wird wohl kaum irgendwo so deutlich, wie in Rio, wo es seit einiger Zeit eine Ladenkette von Tierhandlungen mit der Bezeichnung „Dr. Freud“ gibt. Es gibt ihrer Werbung zufolge angeblich nichts Besseres als einen Hund, der einen beim Nachhausekommen freudig begrüßt und geduldig zuhört, wenn man ihm den Ärger des Tages erzählt. Dem gesunkenen Ansehen der Psychoanalyse zum trotz, florieren andererseits offensichtlich die pseudopsychoanalytischen Sekten. Eine mögliche Erklärung für diesen Widerspruch verweist auch auf den Staat. Es könnte daran liegen, daß zumindest in Rio und São Paulo sein Gewaltmonopol vom organisierten Verbrechen sehr effektvoll bestritten wird. Der Staat kann seinen Bürgern offensichtlich nicht einmal mehr ein Minimum an Sicherheit garantieren. Wo aber jeder einzelne im Alltag permanent mit Gewalt und Straflosigkeit konfrontiert wird, wird die Gesellschaft tendenziell anomisch. Wenn aber selbst grundlegende gesellschaftliche Normen ihre Verbindlichkeit verlieren, gehen die Voraussetzungen für die herkömmliche Form psychoanalytischer Praxis verloren. Als solche setzt sie ein verbindliches Vertragsverhältnis zwischen Analysand und Analytiker voraus und daß das Gesetz über jede Art von Willkür letztlich obsiegt.[18] In den umbandistischen und afro-brasilianischen Kultstätten, den terreiros, und ihren Heiligen (Orixás) ist das deutlicher. In der Zeit des Karnevals, wenn die Verhältnisse auf dem Kopf stehen, Unterschichtangehörige für einige Tage Prinzen, Prinzessinnen und Medienstars sind, und auch der brave Bürger über die Stränge schlägt, bleiben die terreiros geschlossen. In diesen Tagen kommen die Geister nicht. In einer anomischen Gesellschaft ist Psychoanalyse vielleicht nur noch in religiös und sektenartig deformierten Formen möglich.

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[1] Dieser Aufsatz ist bereits in portugiesischer Sprache veröffentlicht worden: Füchtner, H. (2003): A Psicanálise organizada e o Estado no Brasil. In: Trieb, Bd. II Nr.2.
[2] Das Thema fand später, während des 2. Weltkrieges, auch in Brasilien Beachtung: Marcondes, D. (1944): Higiene Mental de Guerra. In: Arquivos de Neurologia e Psiquiatria, Bd. 2(3) São Paulo setembro 1944, (S.239-247).
[3] Allerdings um den Preis der Einhaltung bestimmter Vorschriften, die allenfalls mit psychoanalytischer Psychotherapie, aber nicht mit einer analytischen Kur im traditionellen Sinne vereinbar sind.
[4] In Brasilien war Edgar de Almeida, der Mitbegründer der SBPRJ, in den Jahren der Diktatur von 1967-1971, deputado federal des MDB. Eine Tatsache, die Marialzira Perestrello (Perestrello, M. (Hg.)(1987) in ihrer Geschichte der SBPRJ nicht erwähnt. Eduardo Mascarenhas, Mitglied der SPRJ, war Bundestagsabgeordneter (deputado federal) des PTB in den Jahren 1991-1993, 1993-1994 und 1995-1997.
[5] Das ist auch In Frankreich ein aktuelles Problem. Dazu: Roudinesco, E.(2004): Le patient, le thérapeute et l'Etat. Paris (Fayard).
[6] Abgesehen davon spricht Freud überall da, wo in der portugiesischen Übersetzung das Wort grupo steht, im Originaltext von „Masse“. Viele Mängel der portugiesischen Ausgabe des Freudschen Werkes sind Folgen der Tatsache, daß sie eine Übersetzung aus dem Englischen, d.h. der Standard Edition ist.
[7] siehe dazu Bleger, J.(1966): Psicohigiene y psicologia institucional. Buenos Aires (Paidos). und die Beiträge in den Sammelbänden,Kaës, R.; Bleger, J.; Enriquez, E., u.a.. (Hg.)(1988): L'institution et les institutions. Études psychanalytiques. Paris: Dunod; Kaës, R. (1997): L'intérêt de la psychanalyse pour traiter le réalité psychique de/dans l'institution. In: Revue Internationale de Psychosociologie, Bd. 6-7, 1997, (S.79-96). und die Arbeiten von Rouchy. Rouchy, J.-C. (1972): Phénomènes inconscients dans les groupes et les organisations. In: Connexions, Bd. 1-2 / 1972, (S.83-100); Rouchy, J.-C. (1973): De l'analyse institutionnelle. In: Connexions, Bd. 6 / 1973, (S.83-98); Rouchy, J.-C. (1978): Un passé sous silence. In: Etudes Freudiennes, Bd. 13-14 / 1978, (S.175-189); Rouchy, J.-C. (1980): Vers une psychosociologie psychanalytique. In: Connexions, Bd. 29 / 1980, (S.17-37).
[8] Eine Berücksichtigung einer solchen Differenzierung erfordert sehr viel sozialwissenschaftlichen Aufwand. Sie läßt sich wohl jeweils nur punktuell realisieren. Hier im Folgenden kann sie allein schon aus Platzgründen nicht weiter berücksichtigt werden.
[9] Soweit ich in der Folge über Veränderungen des brasilianischen Staates spreche, zitiere ich nicht im einzelnen die benützten Publikationen, sondern beziehe mich auf meine zusammenfassenden Darstellung Füchtner, H.(1991): Städtisches Massenelend in Brasilien. Mettingen (Brasilienkundeverlag), in der ich die betreffenden bibliographischen Angaben mache.
[10] Ein Sachverhalt, der inzwischen in mehreren Publikationen berücksichtigt worden ist.; Nunes, S. A. (1988): Da Medicina Social á psicanálise. In: Birman, J. (Hg.): Percursos na História da Psicanálise (S. 61-122). Rio de Janeiro. Taurus; Andrade, R. A. S. (1994): Avatares da história da psicanálise: da medicina social no Brasil à medicina nazista e à medicina romântica alemã. In: Herschmann, M. M., Messeder Pereira, C. A. (Hg.): A invenção do Brasil moderno. Medicina, educação e engenharia nos anos 20-30. Rio de Janeiro. Rocco; Reis, J. R. F.(1994): Higiene mental e eugenia: o projeto de "regeneração nacional" da liga brasileira de higiene mental (1920-19230). Campinas (Diss. mestrado Instituto de Filosofia e Ciências humanas da Universidade Estadual de Campinas, dezembro de 1944)..Facchinetti, C.(2001): Deglutindo Freud. Histórias sobre a digestão do discurso psicanalítico no Brasil. Tese de doutoramento em teoria psicanalítica. São Paulo (UFRJ).
[11] Eine im Ausland erworbene ärztliche Qualifikation wird in Brasilien nicht anerkannt.
[12] Medeiros psychoanalytische Orientierung ist auch in seinen Veröffentlichungen erkennbar. Er hat mehrere psychoanalytisch orientierte Arbeiten veröffentlicht, darunter auch ein Buch mit dem Titel „O inconsciente diabólico“.
[13] In allerdings thematisch sehr begrenzter Weise. Von Autoren, die nicht den IPA-Gruppen angehörten, wurden immer wieder psychoanalytisch orientierte Arbeiten zu politischen Themen veröffentlicht. So z.B.: Silva, G. P. d.(1933a): Lenine e a Psicanálise. Rio de Janeiro (Antlantide).; Silva, G. P. d.(1933b): Um para 40 Milhões. Rio de Janeiro (Ed. Moderna).; Silva, G. P. d.(o.J.): Getúlio Vargas e a Psicanálise das Multidões. Rio de Janeiro (Zelio de Valverde); Queiroz Junior, J.(1957): O Suicídio de Getúlio Vargas através da psicanálise na interpretação de Gastão Pereira da Silva. Rio de Janeiro (Editorial "Copac" S.A.); Weissmann, K.(1964): Masoquismo e Comunismo. Contribuição à Patologia do Pensamento Político. São Paulo (Martins).
[14] Diese These vertritt Sério ganz nachdrücklich Sério, N. M. F.(1998): Reconstruindo "Farrapos". A trajetória histórica da SPRJ: instituição e poder. Niterói (Tese de doutoramento. UFF).
[15] Ich beschränke mich auf diese milde Formulierung. Es läßt sich durchaus zeigen, daß die Psychoanalyse in diesen Jahren zur Entfremdung der Mittelklasse beigetragen hat. Siehe dazu Martins, L. (1979): A Geração AI-5. In: Ensaios de Opinião ( Paz e Terra), Bd. 11 / 1979, (S.72-103).
[16] Sein skandalöser Höhepunkt ist der Fall Lobo. Ich brauche darauf hier nicht weiter einzugehen. Darüber ist auch im Ausland, auch in Deutschland, viel diskutiert worden, zumal auch die IPA involviert war: Füchtner, H. (1984): Traurige Psychotropen? In: Psyche, Bd. 7/1984, (S.605-626); Füchtner, H. (1985): Tragische Psychotropen? In: Psyche, Bd. 12 / 1985, (S.1150-1154); Kemper, J. (1988): Brief an die Psychoanalytische Gesellschaft von Rio de Janeiro. In: Psyche, Bd. 11 / 1988, (S.1016-1020). Vianna, H. C. B. (1988): Psychoanalyse und Politik in Brasilien. In: Psyche, Bd. 11 / 1988, (S.997-1015).
[17] Wie das z.B. in Deutschland der Fall ist, wo die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) die wichtigsten Organisationen in diesem Bereich vertritt.
[18] Bei Hélio Pellegrino findet sich ein interessanter Hinweis auf den Zusammenhang zwischen „sozialem Pakt“ und „ödipalem Pakt“. Pellegrino, H. (1986): Psicanálise da criminalidade brasileira. In: Pinheiro, P. S. Braun, E. (Hg.): Democracia X Violência. Rio de Janeiro. Paz e Terra..

 

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