Prof. Dr. med. et phil. Horst-Eberhard Richter
Psychoanalytiker, ehem. Direktor des Sigmund-Freud-Institutes, Mitbegründer der bundesdeutschen Sektion der IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung), Friedensnobelpreis 1985
„Engagierte Analysen“ - Interview mit Elena Pasca (1.02.2005)
Elena Pasca: Eines Ihrer Bücher heißt „Engagierte Analysen“. Was verstehen Sie unter „Engagement“?
Horst-Eberhard Richter: Das Engagement eines Psychoanalytikers kann auf verschiedene Art erfolgen:
- er nimmt als Bürger politisch Stellung. Beispiele: Freud hat einen Wahlaufruf für den roten Wiener Magistrat unterschrieben, auch ein „Manifest gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend“ (1930)
- Der Psychoanalytiker untersucht in kritisch aufklärerischer Absicht die unbewussten Hintergründe von Massenphänomenen. Beispiel: Das berühmte Antisemitismus-Symposium 1944 in San Francisco u.a. mit den Beiträgen von Ernst Simmel, Bernhard Berliner und Otto Fenichel. Die Absicht war, einer an der amerikanischen Westküste aufgetretenen faschistischen Propaganda entgegenzutreten. Anderes Beispiel: Alexander und Margarete Mitscherlich haben mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ versucht, durch Deutung von Abwehrmechanismen die Erinnerungsarbeit der Deutschen zu unterstützen. Das Frankfurter Psychoanalytische Institut wurde von Ministerpräsident Zinn ausdrücklich in der Absicht gegründet, den Demokratisierungsprozess in Deutschland zu fördern.
- Der Psychoanalytiker unterstützt unter Anwendung seines psychoanalytischen Wissens die Reformierung repressiver sozialer Strukturen in der Pädagogik, in der Sozialpolitik (Ausgrenzung von Ausländern, Flüchtlingen und anderen Randgruppen, im Strafvollzug usw.) – teils durch theoretische, teils durch Aktionsforschung. Aktionsforschung meint: Der Psychoanalytiker ist teilnehmender Beobachter bzw. beobachtender Teilnehmer. Er partizipiert mitverantwortlich an dem Projekt und versucht deutend, kontraproduktive Reaktionen unter Kontrolle zu bringen. Beispiel: Nach dem Muster der „Identifikation mit dem Aggressor“ können Friedensgruppen, anstatt für Verständigung und Humanisierung von Beziehungen zu wirken, einer Feindbild-Projektion mit umgekehrten Vorzeichen erliegen, z.B. einem blindem Antiamerikanismus. Solchen Prozessen kann ein Psychoanalytiker entgegenwirken.
Elena Pasca: Wie definieren Sie die gesellschaftliche Funktion der Psychoanalyse?
Horst-Eberhard Richter: Konservative Psychoanalytiker begrenzen diese Funktion auf die Anwendung ihrer Theorie in der Heilbehandlung. Stichwort: Medizinalisierung. Diese Einengung des Selbstverständnisses geschah in der Zeit der Naziverfolgung vor allem unter dem Einfluss von Heinz Hartmanns Definition der Psychoanalyse als „Naturwissenschaft von der Seele“. Persönlich dehne ich die Definition meiner Chancen als Psychoanalytiker so weit aus, dass ich dazu sogar die Aufgabe rechne, über den neurotischen Charakter der von Präsident Bush verordneten dichotomischen Gut-Böse-Spaltung der Welt aufzuklären.
M.E. ist der Ansatz von Ernst Simmel richtig, dass speziell irrationale Sündenbock-Mechanismen mit ihrer Ansteckungs- und Gewaltfördernden Wirkung zu psychoanalytischer Aufklärungsarbeit herausfordern. Wenn ich selbst demnächst am 23. Februar anlässlich des Bush-Besuches in Deutschland eingeladen worden bin, auf einer kritischen Veranstaltung zu sprechen, so deshalb, weil die Leute von mir eine Analyse der Kreuzzugsmentalität erwarten, die eine Fortdauer der Kriegspolitik – siehe Iran – wahrscheinlich macht.
Elena Pasca: Ist die Zielvorstellung der konkreten analytischen Arbeit ethisch definierbar? Oder kann man sie einfach mit der Gesundheitsvorstellung der Medizin vergleichen?
Horst-Eberhard Richter: In Deutschland werden die allermeisten Psychoanalysen von den Krankenkassen unter der Bedingung bezahlt, dass die Psychoanalytiker sich an keine anderen als medizinische Kriterien halten.
Elena Pasca: Sie sind selber Arzt. Aber sie lehnen die Medizinalisierung der Psychoanalyse ab, wie schon Freud es getan hat. Wie sähe ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden Bereichen aus?
Horst-Eberhard Richter: Stellen Sie sich vor, ein Patient reagiert mit Symptomen, weil er in einem Autoritätskonflikt zwischen Anpassung und Widerstandsbereitschaft schwankt. Er kann seine Symptome verlieren, wenn er sich mit der Anpassung aussöhnt, weil ihm der Widerstand als infantiler Trotz gedeutet wird. Aber vielleicht hätte er bei vorläufiger Fortdauer seiner Symptome lernen sollen, seine Bestrafungsängste durchzuarbeiten und standhafter zu werden. Dann würde die Psychoanalyse sehr viel länger dauern, aber er würde seinen Charakter stärken. In der Nazizeit sind viele Deutsche sicher „gesund“ geblieben, weil sie ihr Über-Ich verraten bzw. externalisiert haben.
Elena Pasca: Was halten Sie von den sogenannten kurzen Therapien (Verhaltenstherapien usw.)? Bedeuten sie den Tod der Psychoanalyse?
Horst-Eberhard Richter: Es gibt auch nützliche psychoanalytische Kurztherapien, in denen nur ein akuter Konflikt als Focus bearbeitet wird (Fokaltherapie). In Deutschland überwiegen im Arbeitsalltag eines Psychoanalytikers inzwischen kürzere psychoanalytische Psychotherapien, der Anteil der klassischen Langzeitanalysen mit 4 Wochenstunden ist zurückgegangen. Neben introspektiver aufdeckender Therapie hat sich nun inzwischen ein großer Markt für mehrere Dutzend Verfahren aufgetan, die sich Psychotherapie nennen: Verhaltenstrainings, stützende, musische, dramatische, körperorientierte, meditative Methoden. Ich habe da keine Übersicht mehr.
Eines ist deutlich: Der Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe wächst noch immer. In unserer Zeit hektischer Betriebsamkeit und einer Wirtschaft, in welcher die Strukturen immer schneller wechseln, umgebaut werden oder zusammenbrechen, haben es die Menschen schwerer, Konstanz in ihren Biographien und in ihren Beziehungen durchzuhalten. Die Wirtschaft hat ja auch einen neuen Typ von halb Psychotherapeuten, halb Erfolgstrainern hervorgebracht, die „Coaching“ betreiben, psychische Stärkung zur Erhöhung der ökonomischen Effizienz.
Aber es gibt auch noch das andere Bedürfnis, sich durch Psychoanalyse innerlich zu vervollständigen, psychische Spaltungen zu überwinden, verlässlicher in einer Welt der Inkonstanz und Unverlässlichkeit zu werden. „Flüchten oder Standhalten“ habe ich eines meiner Bücher genannt. Das gilt auch für die Psychoanalyse selbst. Max Horkheimer hat sie ein „humanistisches Modell“ genannt. Ich meine, es droht ihr trotz allem weniger Gefahr von außen durch konkurrierende Verfahren, ökonomischen Druck oder Bürokratisierung. Gefährlicher noch ist die Versuchung, sich sektiererisch aus der Gesellschaft zurückzuziehen und sich als eine Religionsschule einzukapseln.
Elena Pasca: Wie erklären Sie Ihr Interesse für die Psychosomatik?
Horst-Eberhard Richter: Als Soldat im Krieg erkrankte ich nach sadistischer Drangsalierung durch einen militärischen Vorgesetzten an einem rheumatischen Fieber. Da geriet ich an einen Stabsarzt, der von Viktor von Weizsäcker ausgebildet worden war. Der holte aus mir die angestaute enorme Wut heraus, die mich in die Krankheit getrieben hatte. Davon wurde ich nicht gleich gesund. Aber ich bekam die Kraft, allmählich gesund zu werden. Dieser Arzt erlaubte mir, manchen seiner Gespräche mit anderen Patienten beizuwohnen, in denen ich den Zusammenhang von Krankheit und innerer Verfassung zu verstehen lernte. Das wurde ein Interesse, das mich nicht mehr losließ.
Als mir nach dem Krieg, und noch während meiner psychoanalytischen Ausbildung die Leitung einer Beratungs- und Forschungsstelle für seelisch gestörte Kinder und Jugendliche in Berlin anvertraut wurde, hatte ich es überwiegend mit Müttern und Eltern zu tun, die an ihren Kindern eigene Beschädigungen abreagierten. Ihre Kinder sollten ihnen helfen, eigene Niedergeschlagenheit zu überwinden, den verlorenen Partner zu ersetzen, eigenen Misserfolg zu kompensieren oder zur Abfuhr von Selbsthass als Sündenbock zu dienen. So lernte ich die Symptome der Kinder oft als Signal für diese Art von psychischem Missbrauch zu verstehen.
Als ich 1957, also fast vor einem halben Jahrhundert, in Paris meinen ersten Vortrag auf einen Internationalen Psychoanalytischen Kongress hielt, war es zu einem psychosomatischen Thema, nämlich über die Essstörung und die chronische Obstipation von 14 Kindern als Folge einer gestörten Mutterbeziehung. Es war gleichzeitig der Beginn meiner Forschung auf dem Gebiet der psychoanalytischen Familientherapie.
Elena Pasca: Seit Ihrem Buch über den „Gotteskomplex“ klagen Sie Symptome der westlichen Egomanie an, die Sie als Kriseerscheinung des Bewusstseins deuten. Andere Theoretiker sprechen eher von einer narzisstischen Epoche. Worin besteht der Unterschied? Wie stellen Sie sich den Ausgang aus dieser Krise vor?
Horst-Eberhard Richter: Das wäre das Thema für das Buch, das ich darüber geschrieben habe. Ich kann hier nur mit wenigen Stichworten antworten. Ich sehe in der neuen naturwissenschaftlich technischen Revolution zwei gegenläufige Tendenzen: Bewusst ist es die Berauschung an einer Naturbeherrschung, die keine Grenzen kennt. Die einst Gott zugesprochene Allmacht scheint immer näher heranzurücken. Freud sprach schon vor 75 Jahren davon, dass der Mensch das Stadium eines „Prothesengottes“ erreicht habe, obwohl die Prothesen damals im Vergleich zu heute noch sehr viel weniger vollkommen waren.
Aber die inzwischen erreichte Beinahe-Allmacht macht gleichzeitig den Abgrund am Rande des möglichen Missbrauchs dieser Macht zur gemeinsamen Selbstzerstörung sichtbar. In diesem Moment wird die unbewusste Kehrseite der vermeintlichen Omnipotenz sichtbar. Nämlich das Eingeständnis einer kläglichen Schwäche und eines tiefen Selbstmisstrauens. Der Mensch hat das Zutrauen in die eigene Fähigkeit und Kraft verloren, ein friedliches Zusammenleben in gegenseitiger Verständigung und Unterstützung herbeizuführen. Denn nichts anderes heißt es, wenn der Mensch sich resignativ dazu entschließt, sich gegen die eigene Friedensunfähigkeit mit der Einschüchterungswirkung der Nuklearwaffen versichern zu wollen. Denn so sähe der „Frieden“ aus, wenn die USA mit ihrem überlegenen Nuklearpotential auch noch den in Vorbereitung befindlichen Raketenabwehrschild zur Verfügung hätten.
Natürlich wird das nicht funktionieren. Angst, Hass, Rachegefühle werden in Regionen wachsen, wo diese Einschüchterung als Geiselhaft erlebt werden wird. Praktisch bedeutet also diese Entwicklung statt einer göttlichen Selbsterhöhung des Menschen eine Selbstversklavung an die schlimmste Zerstörungsgewalt. Der einst höchste amerikanische Militär, General Omar Bradley, Augenzeuge von Hiroshima und Nagasaki, Kommandeur der Invasion in der Normandie, verabschiedete sich bei seiner Pensionierung mit der Feststellung: „Wir leben in einem Zeitalter der nuklearen Riesen und der ethischen Zwerge“.
Noch lebt die pathologische Illusion fort, durch maximale Steigerung des eigenen Bedrohungs- und Gewaltpotentials eine Freiheit von allen Abhängigkeiten erobern zu können. Deshalb kommt in der Antrittsrede des Präsidenten Bush 42 mal die Beschwörung von Freiheit vor, in seinem Sinne von Freiheit als Recht des Stärkeren zu ungebundener Machtwillkür, unter Missachtung der elementaren Wahrheit, dass der Mensch unausweichlich auf Gegenseitigkeit, auf wechselseitiges Auf-einander-Angewiesensein angelegt ist.
Der Gotteskomplex, wie ich ihn nenne, ist eine sich kreisförmig selbst verstärkende Dynamik von egomanischem Allmachtswahn und unbewusster Ohnmachtsangst. Dabei wäre eine Chance zur Selbstheilung mit den Händen zu greifen, wenn etwa ein Signal wie die Tsunami-Flut mit den von ihr ausgelösten Reaktionen richtig verstanden würde. Es liegen die Fähigkeiten und Kräfte ja weltweit bereit, zur Sicherung der Lebensgrundlagen für eine gemeinsame Zukunft zusammenzustehen.
Diese Gedanken stammen übrigens aus meiner philosophischen Doktorarbeit, die ich unmittelbar nach Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft nach dem Zusammenbruch des damaligen Selbstvergöttlichungs– und Allmachtswahns geschrieben habe, als dessen verdrängte Kehrseite offenbar wurde.