Psychoanalyse und Philosophie

Herbert Marcuse: Psychoanalyse und Philosophie, Nachgelassene Schriften, Bd. 3. zu Klampen Verlag, Lüneburg, 2002

Nach Fromms Ausschluss aus dem Institut für Sozialforschung, blieb Marcuse der einzige Denker der„Frankfurter Schule“, für den die Psychoanalyse mehr beinhaltete als einen unumgänglichen Beitrag zur Analyse des beschädigten Lebens.

Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno, zieht es Marcuses Denken immer wieder zu den Möglichkeiten eines Auswegs aus der totalitären Vermittlung der Kulturindustrie. Mit dieser Absicht nimmt auch die Psychoanalyse bei Marcuse eine unvergleichbar zentralere Stellung ein. Wo sich Horkheimer und Adorno auf eher abstrakt allgemeine Hinweise auf die befreienden Möglichkeiten einer elitistischen Kunstavantgardebeschränken, entwirft Marcuse, im Kontext der Freudschen Metapsychologie, die Grundzüge eines nicht beschädigten Lebens und der dazu unumgänglichen besseren Gesellschaft.


Die wissenschaftliche Gleichschaltung und die Reduktion auf technisches Spezialistentum berauben, nach Marcuse, die Psychoanalyse der Übertreibungen und Spekulationen, die ihre politische Bedeutung ausmachen. Daß die Metapsychologie aber nicht nur theoretische Gesellschaftskritik bedeutet, zeigt Marcuses Versuch ihr Richtlinien für ein praktische Gesellschaftsänderung abzugewinnen. Diese Änderung im Großen ist freilich nur durch eine Veränderung der Subjektivität des Individuums im einzelnen zu bewerkstelligen; durch die Herstellung einer neuen Sensibilität.

Die Entwicklung eines neuen Sublimationsbegriffs und die Kritik des geschichtlich vermittelten Realitätsprinzips sind der Schlüssel von Marcuses kritischen Analyse der Kultur und der ihr entsprechenden Lösungsversuchen.

Die repressive Verschränkung von Kultur, Arbeit, Triebunterdrückung und Sublimation, die jede Freisetzung der Libido als Risiko »abscheulicher Ausschreitungen« befürchten muss, findet nach Marcuse, nur wenig Anhaltspunkte in der Psychoanalyse. Die Idee des Wachstums der Produktivität aus Repression ist nicht auf ein psychisches Gesetz zurückzuführen, sondern auf eine überlebte gesellschaftliche Notwendigkeit. Insofern zeigt auch das Realitätsprinzip seine konkrete Vermittlung als Leistungsprinzip (»das Realitätsprinzip der Periode«, S. 183) auf; eine Idee, die auch Lacans Ich-Begriff prägt.
Dieses Realitätsprinzip – nicht das Realitätsprinzip als solches – bedingt ausschließlich repressive Sublimationsformen. Unter repressiver Sublimation versteht Marcuse Sublimation mit Objektverschiebung und Desexualisierung. Gesellschaftliches Ventil der repressiven Sublimation ist die repressive Entsublimierung. Letztere bekundet sich in der Pseudo-Liberalisierung der Sexualmoral: »Was an sich ein Element des Fortschritts und der Befreiung ist, nämlich der Abbau von Triebhemmungen, das wird praktiziert im Rahmen einer Gesellschaft, die unter dem technologischen Schleier die Repression zum Organisationsprinzip hat. So wird die Liberalisierung der Moral selbst zu einem Prinzip dieser repressiven Organisation.« (S. 142) Sexualität selbst wird so zum Geschäft, zum Status-Symbol, zum Attribut des Prestiges.

Die Psychoanalyse setzt jedoch tiefer an, wie Marcuse anhand von Freuds Erweiterung der Sexualität zu zeigen versucht. Sexualität als Eros öffnet Perspektiven einer nicht-repressiven Sublimation, deren Libido ihre Kultur–, Vernunft – und Arbeitsfeindlichkeit abgelegt hat. Im Gegensatz zu repressiver Sublimation charakterisiert benötigt nicht-repressive Sublimation weder Desexualisation, noch Objektverschiebung.


Freuds Definition der Libido, als Tendenz zu immer größeren Einheiten und höheren Entwicklungen (Freud, G.W.XIII, S. 233), liefert Marcuse einen Hinweis auf diese Möglichkeit. Auch Ferenczis »genitofugale Libido« (Ferenczi, Versuch einer Genitaltheorie) zeigt deutlich in diese Richtung. Als Eros dürfte es also der Sexualität möglich sein selbst kulturelle Tendenzen aufzuweisen und daher immanent zu nicht-repressiver Sublimation zuneigen.
Eine solche Triebbefreiung beim Individuum setzt zur gleichen Zeit den Abbau der Surplus-Unterdrückung, d.h. der phylogenetisch nicht notwendigen Unterdrückung voraus. Gesellschaftliche und psychologische Änderungen sind komplementär. Nicht-repressive Sublimation ermöglicht, mit einer tiefgreifenden Änderung des Realitätsprinzips, eine» libidinöse Vernunft « die sowohl eine Resexualisierung des durch Arbeit geläuterten Körpers, als auch eine Erotisierung der Persönlichkeit zur Folge hat. Nicht Triebexplosion, sondern » Selbstausarbeitung der Libido « ereignet sich jenseits des Leistungsprinzips der nicht-repressiven Gesellschaft. Marcuses Freud-Deutung zeichnet sich selbstverständlich mehr durch schöpferische Originalität als durch strikte Textauslegung aus. Dennoch scheint ihr Beitrag nicht ohne Belang für die psychoanalytische Praxis. Das Problem einer auf Technik reduzierten Psychoanalyse ist nicht nur politischer Natur. Auch der analytische Deutungsvorgang, sowie die Zielsetzung der Kur sind wesentlich davon betroffen.

Die Lektüre Marcuses bestärkt den Eindruck, dass ohne metapsychologische und politische Überlegung über das Klinische und Technische hinaus, die Psychoanalyse sich allzu leicht in mitgängige Ideologie (Leistung, Produktivität, Erfolg, …) verstrickten muß. Insofern bleiben Marcuses Gedanken über die Psychoanalyse meines Erachtens aktuell; auch als praktische Aufgabe für den Analytiker.

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